Neue Narrative im Kontext von Migration – Gastkommentar von Fred-Eric Essam beim DGB Bildungswerk

Am 18. Mai hat die Fachkommission „Fluchtursache“ der Bundesregierung ihren Bericht der Öffentlichkeit vorgestellt. In einem Gastbeitrag, der im Bildungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes e.V. veröffentlicht wurde, beschreibt Fred-Eric Essam, Mitglied der Fachkommission und Vorsitzender von ident.africa e.V., seine Einschätzung zu den Ergebnissen der 18-monatigen, intensiven Arbeit. Laut Essam ist die Arbeit der Kommission „eine gute Grundlage für die betroffenen Flüchtlinge und Migranten und eine Chance für neue Narrative im Kontext der Migration“.

Zum Thema Flucht und Migration hat jeder eine Meinung: zu humanitärer Hilfe und zur Schließung von Grenzen bis hin zum Bau von „unüberwindbaren“ Mauern. Letzteres ist gern Thema in populistischen Kreisen. Die „Fachkommission Fluchtursachen“ hat sich dagegen mit den Ursachen von Flucht und irregulärer Migration beschäftigt und dazu einen Bericht mit 15 Weichenstellungen zu ihrer Minderung veröffentlicht.

Die 24 Mitglieder formulieren darin umfassende Empfehlungen zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Die Arbeit der Kommission ist aus meiner Sicht eine gute Grundlage sowohl für die betroffenen Geflüchteten und Migrant:innen als auch eine Chance für neue Narrative im Kontext von Migration.

In der Kommissionsarbeit herrschte Einigkeit darüber, „dass es sich lohnt, sich für eine gerechte Weltordnung einzusetzen, um Wohlstandsgefälle zu verringern und die Bleibeperspektiven der Menschen weltweit zu verbessern.“ Dies sollte eines der Kernanliegen der Bundesregierung werden.

Die Hälfte der Flüchtlinge sind Frauen und Kinder

Von den 82,3 Millionen Menschen, die derzeit weltweit auf der Flucht sind, bleiben mehr als die Hälfte als Binnenflüchtlinge in ihren eigenen Ländern. Die Hälfte von ihnen sind Frauen und Kinder. Es ist zu unterstreichen, dass die Mehrheit der Flüchtlinge aus nur fünf Ländern kommt: Syrien, Venezuela, Afghanistan, Südsudan, Burma und somit in erster Linie nicht, wie rechtspopulistische Rhetorik fälschlicherweise propagiert, aus „Afrika.“

Die Zunahme von Binnenvertriebenen ist zwar in Regionen zu beobachten, in denen schwerste Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in großem Umfang und oft systematisch vorkommen, doch handelt es sich dabei überwiegend um Konfliktregionen und vor allem um fragile Staaten, in denen den Menschen wichtige Lebensgrundlagen und Entwicklungsperspektiven fehlen.

Wenn der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt, jungen Menschen Perspektiven zu bieten, werden sie anfällig für die Rekrutierung durch terroristische Gruppen wie Boko Haram oder sehen sich gezwungen ihr Land zu verlassen. Perspektivlosigkeit ist einer der Hauptgründe für die Flucht und irreguläre Migration. Das gilt besonders für junge Menschen in Afrika.

Klimawandel und Afrikas Grüne Mauer

Die Folgen des Klimawandels wie langanhaltende Dürreperioden in weiten Teilen Afrikas, Heuschreckenplagen, Überschwemmungen oder die fortschreitende Wüstenbildung im Sahel sind genauso verschärfende Faktoren für erzwungene Migration. Die unmittelbaren Folgen sind: Nahrungsmittelknappheit, die erhebliche Probleme für die Ernährungssicherheit in den betroffenen Ländern verursacht und den Druck auf essentielle Ressourcen wie Trinkwasser und Ackerland erhöht. Dies verstärkt die Ungleichheiten, beeinträchtigt die Lebensqualität der Bevölkerung dauerhaft und kann zu Konflikten führen.

„Der Klimawandel gehört heute wie die Corona-Pandemie und ihre Folgen zu den größten Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft.“

Globale Probleme verlangen globale und lokale Antworten. „Afrikas Grüne Mauer“ ist eine konkrete afrikanische Antwort auf den Klimawandel und die fortschreitende Wüstenbildung im Sahel. Sie hilft, neue Ökosysteme und nachhaltige Lebensgrundlage zu bilden sowie Armut zu bekämpfen. So sollen durch die Initiative Millionen Arbeitsplätze entstehen und ein konkreter Beitrag zur Minderung von Fluchtursachen und irregulärer Migration sowie zur Bekämpfung der Rekrutierung junger Menschen durch terroristische Gruppen wie Boko-Haram geleistet werden.

Unser Konsumverhalten schadet Ökosystemen

Unser Konsumverhalten und das Streben nach mehr Gewinnen zerstören die biologische Vielfalt. Die fortschreitende Zerstörung von Primärwäldern durch Förderung von Monokulturen (Kautschuk-, Palmplantagen) hat desaströse Folgen für die Ökosysteme. Wildtiere, die früher in ihrer natürlichen Umgebung lebten, gelangen zunehmend in Kontakt mit den Menschen und begünstigen so die Übertragung von schweren Krankheiten auf die Menschen. Die Covid-Pandemie ist eine Folge davon. Deshalb müssen wir unseren Lebensstil und unser Konsumverhalten grundlegend ändern. Diese Corona-Krise gibt uns die Chance, unsere Lebensweise grundlegend zu überdenken. Denn die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, sind nicht unendlich.

Sichere Migrationswege schaffen

Jeden Tag erreichen uns Meldungen von Menschen, die sich auf die lebensgefährliche Mittelmeerroute begeben und beim Versuch Europa mit einfachen Booten zu erreichen, auf der Suche nach besseren Perspektiven, Arbeit und Schutz im Mittelmeer ertrinken. Die Geretteten berichten von schlimmen Misshandlungen und sklavenähnlichen Bedingungen in Libyen. Eine der 15 Empfehlungen der Fachkommission an die Bundesregierung lautet deshalb, substanzielle Migrationspartnerschaften mit den betroffenen Herkunftsländern einzugehen, um sicherere Migrationswege zu schaffen und Migration gemeinsam zu gestalten.

Aus meiner Sicht sollte sogar das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, welches die Migration von qualifizierten Arbeitskräften nach Deutschland erleichtern soll, nach Afrika deutlich ausgeweitet und mit guten Schritten vorangebracht werden. Die in Deutschland gut ausgebildeten und im Land lebenden Geflüchteten und anderen Mitglieder der Diaspora aus Afrika sollten einfacher in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden. Denn durch ihre Ausbildung in Deutschland erfüllt ein substanzieller Anteil der afrikanischen Diaspora bereits die deutschen Ausbildungsstandards. Es ergäbe eine Win-Win Situation.

Die Vorlage des Berichtes wenige Wochen vor den Bundestagswahlen kann als Aufruf an alle Demokrat:innen in Deutschland verstanden werden, für Kräfte zu stimmen, die es sich zur Aufgabe machen, globale Probleme global anzugehen und Menschen überall in ihrer Heimat Perspektiven zu bieten, damit sie die gefährliche Reise gar nicht erst antreten müssen.

Ein Gastkommentar von Fred-Eric Essam, erschienen auf: www.dgb-bildungswerk.de
Fred-Eric Essam ist Mitglied der Fachkommission Fluchtursache der Bundesregierung, Gründer und Vorsitzender von ident.africa e.V.